Begabung

Warum Kunst(Frei)Räume in der Begabungsförderung nicht fehlen dürfen

Kreatives Tun und künstlerischer Ausdruck sind wunderbare Wege, um sich selbst zu erkunden und herauszufinden, wer man ist und wer man einmal werden möchte. Die Kunstwerke spiegeln das eigene Innere und schenken so Selbsterkenntnis.

Für begabte Menschen, die selten auf jemanden treffen, der sie ausreichend spiegeln kann, ist das selbstversunkene künstlerische Gestalten ein wichtiger Baustein zum Erhalt der seelischen Balance. Wer so viel mehr wahrnimmt, intensiver fühlt und seinen Gedanken bei ihrer fortlaufenden Expansion zusehen kann, der kommt im Hantieren mit handfestem Material wieder bei sich an, kann sich spüren und die eigene überbordende Neugier im Konkreten manifestieren.

Nach wie vor findet Begabungsförderung überwiegend in Zusatz-Kursen oder am Wochenende statt. Das wird den Begabten nicht gerecht - die Begabungen sind in jeder Sekunde anwesend und drängen auf Entfaltung. Anders als beim Sport, den man zu gewissen Zeiten betreibt, kann man nicht nur zu bestimmten Zeiten begabt und ansonsten "normal" sein.

Der Wutfisch von Maja, 5 Jahre







Von daher sind Freiräume für begabte Kinder überlebensnotwendig; es gilt, das eigene Wesen zu erkennen, den Kern der Begabung sichtbar werden zu lassen, das zu entwickeln, was manche Begabungsidentität nennen. Das gelingt dort, wo Kinder, die auf der Suche nach Freiräumen sind, auf Erwachsene treffen, die diese Freiräume schaffen und sich aus tiefstem Herzen freuen können, wenn die Kinder diese erst zögerlich zwar, doch dann mit umwerfender Energie und Lebenslust erkunden.

Ich habe lange Jahre Kurse für begabte Kinder entworfen und an Schulen oder in Familienfreizeiten umgesetzt. Dabei durfte ich lernen, wie man diese Freiräume so einrichtet, dass alle - die Kinder ebenso wie ich - ihren Spaß daran haben.

Mein erster Kurs in einer Freizeit war komplett durchgeplant und minutiös vorbereitet. Wir saßen im Kreis auf dem Boden und wurden warm miteinander. In dem Moment, als ich den Ablauf des ersten Kursvormittags vorstellen wollte, hüpfte eines der Kinder auf die Kartons mit Kursmaterial zu, die unausgepackt an der Seite standen. Ehe ich eingreifen konnte, packte es zu und drehte den Karton schwungvoll um. Da stand es, die Füße bedeckt von diversen Bastelutensilien, lachte in die Runde und sagte fröhlich: "Wow, du hast ja tolle Sachen mitgebracht! Ich weiß schon genau, was ich daraus machen will." Das war das Startsignal, es gab kein Halten mehr - innerhalb von wenigen Minuten waren die Kartons leer und vom Fußboden nichts mehr zu sehen.

Mein Inneres seufzte ein leises Ohje!, doch zum Glück zog mich meine eigene Neugier in das Treiben der Kinder hinein. Vorsichtig begann ich aus der Mitte des Schwarmes heraus, diesen zu lenken, stets bedacht, nicht zu bremsen. Das unangenehme Gefühl, sein Tempo drosseln zu müssen, kenne ich nicht nur aus meiner Kindheit zur Genüge! Unnötig zu sagen, dass das im Rückblick der beste Kursstart war, den man sich denken konnte.

In einem anderen Kunstkurs war unter den Kindern ein knapp sechsjähriges Mädchen, das sich am ersten Kurstag schüchtern hinter seiner Mutter versteckte und mit niemandem sprach. Still stand sie am Fenster, reagierte auf nichts, nahm nichts an. Mehrfach mussten wir uns auf den Weg zu ihrer Mutter machen; ich vorneweg, sie mit großem Abstand hinterher. Der zweite Tag begann auf die gleiche Weise. Ich bin meist sehr gelassen und kann gut abwarten, bis Kinder ihren Weg in die Gruppe finden - aber was sollte ich hier nur tun?

In einer Pause ging ich mit Farbe an den Händen zum Waschraum, als sie mir zufällig entgegen kam. Aus einem Impuls heraus stupste ich ihre Nase im Vorbeigehen lachend an, einen bunten Farbklecks hinterlassend. Sie stand stocksteif vor mir, sah mich kurz an und rannte dann davon. Ich mit immer noch bunten Händen hinterher - man weiß ja nie. Sie verschwand im Kursraum und kam hüpfend wieder heraus, an den weit auseinandergestreckten Händen alle Farben, die auf den Tischen standen. Vorsichtig setzte auch sie einen Farbklecks auf meine Nase. Einen winzigen Moment lang standen wir uns atemlos und verwundert gegenüber. Dem folgenden Farbtupfen-Austausch fielen unsere T-Shirts zum Opfer, doch das war ein kleiner Preis dafür, dass Maja nun beschließen konnte mitzumachen.

Der Fisch oben war ihr erstes Bild, gemalt mit energischen Strichen mit Wachsmalstiften auf Schmirgelpapier. Als er fertig war, durfte ich ihn ansehen. "Das ist der Wutfisch!" erzählte sie mir, "Er hat eine Schutzhülle, damit die Wut nicht raus kann und niemand sie sieht."

Maja hat noch viele Gefühle sichtbar gemacht, es war die ganze Palette darunter. Und zum Glück hatten wir genügend Papier und Farben dabei... Und ihre eigene Schutzhülle wurde so durchsichtig, dass auch sie sichtbar werden konnte.

Cornelia Klioba

Kommentare

Beliebte Posts